Mailand- San Remo 2008

Die Renaissance der Classicima

Mailand – San Remo stand heuer von Beginn an ganz im Zeichen der Veränderungen .An 2 wesentlichen Punkten musste die Streckenführung auf Grund von Umbauarbeiten leicht verändert werden. Einerseits rund 100 Kilometer vor dem Ziel, wo erstmals der Anstieg des „Manie“ zu bewältigen war und andererseits 1 km vor dem Ziel, wo die Fahrer von der Via Roma auf die Hafenpassage „Lungomare Italo Calvino“ umgeleitet werden. Dadurch ist das Rennen erstmals auch 298 statt sonst 294 Kilometer lang. Diese Veränderungen, meinten die meisten Experten, würden wohl am Rennverlauf kaum etwas ändern. Es sollten wieder einige Klassikerspezialisten wie Ricco oder Gilbert verzweifelt versuchen auszureißen, um dann 1000 Meter vor dem Ziel wieder eingeholt zu werden. Das selbe Spielchen jedes Jahr. Eigentlich würde es für den Fan ja sogar genügen erst 3 km vor dem Ziel den Fernsehapparat einzuschalten, denn bis dahin hat er sowieso nichts verpasst.

 

Das ist  vielleicht etwas drastisch ausgedrückt, aber in den letzten Jahren, mit der Ausnahme 2006, war es tatsächlich immer das gleiche Szenario, das sich im Finale mit der Cipressa und dem Poggio abspielte.

 

Heuer, während der 99.Auflage der Primavera, sollte alles anders sein. Bereits zu Beginn ist es ein nervöses Rennen, was für Mailand – San Remo eigentlich auch nicht weiter ungewöhnlich ist. Bei Kilometer 23 setzen sich vier Fahrer ab. Hinten im Feld wird kaum etwas getan, die Spitzengruppe scheint nicht weiter gefährlich. Man lässt sie auf 10 Minuten davonfahren, wohlwissend, dass man jeden Moment das Tempo erhöhen kann und  auch  schnell an der Spitzengruppe dran wäre.

 

Der bekannteste Mann vorne ist wohl der Lette Raivis Belohvosciks. Der aber außer durch seine Zeitfahrqualitäteten noch nicht wirklich im Profiradsport aufgefallen ist. Aber immerhin hat er bereits fünfmal den lettischen Meistertitel im Zeitfahren errungen.

 

Hinten im Hauptfeld passiert bis zum Turchinopass relativ wenig. Ab diesem Punkt, wird aber das Tempo kontinuierlich erhöht. Vor allem Rabobank und Milram sind im Feld sehr engagiert, was sich aber später noch als Fehler herausstellen sollte. Seit Kilometer 23 machen diese beiden Mannschaften nun schon das Tempo, das sollten sie am Ende noch bitter bezahlen. Gerolsteiner zeigt nun auch erste Ambitionen, indem Bernhard Kohl am „Manie“ einen ersten Fluchtversuch unternimmt, dieser sollte hier wohl kaum eine Vorentscheidung herbeiführen, sondern vielmehr die starken Sprinter entscheidend schwächen.

 

Der Rückstand zur Spitze pendelt sich nun, kurz vor Beginn der 5 entscheidenden „Capi – Anstiege“ bei ungefähr 2 .30 Minuten ein. Am Fuße der Cipressa läuft schließlich alles wieder zusammen. Es sollte ein spektakuläres Finale geben. Bettini versucht sich mit einem Tempovorstoß abzusetzen. Es gelingt ihm auch. An seinem Hinterrad befindet sich der junge Schwede Lövkvist. Oben an der Cipressa sind Rebellin und Axelsson dran. Savoldelli schiebt sich in der schweren Abfahrt ebenfalls in die Spitzengruppe. Die Entwicklung an der Spitze ist in diesem Moment aber nicht entscheidend, sondern jene im Hauptfeld. Durch das sehr hohe Tempo haben viele gute Sprinter den Anschluss verloren. MC Ewen und Napolitano hatten, unter anderem, große Probleme. Damit war klar, dass Lampre sich nun voll und ganz auf Ballan konzentrieren müsse.

Am Poggio ist die Spitzengruppe eingeholt, und ein Feld von ungefähr 50-60 Fahrern nimmt den Poggio in Angriff. Bereits zu Beginn wird heftigst attackiert, und das kleine Hauptfeld zerfällt in viele kleine Grüppchen. Die Sprinterteams verlieren völlig die Kontrolle in dieser Situation. Rabobank ist nur mehr mit Freire und seinem  Helfer Langeveld in dieser Gruppe vertreten, der noch einmal alles gibt, aber bereits vor der Spitze des Poggio abreißt. Damit ist der Vorjahressieger nun isoliert! Wie konnte das nur passieren?

 

In der Abfahrt des Poggio bildet sich eine 13-köpfige Spitzengruppe. Mit dabei sind unter anderem Cancellara, Ballan, Freire, Nocentini, Geslin, Gilbert oder auch Rebellin. Gerolsteiner hat viel probiert, aber nun ist Rebellin auf sich allein gestellt. Das Team hat eine gute Leistung gebracht, lediglich von Stefan Schumacher hat man kaum etwas gesehen. Wenn er jetzt noch vorne dabei wäre, könnte Rebellin vielleicht mit seiner Hilfe die Gruppe zusammenhalten und die Classicima gewinnen. Gegen diese starken Sprinter, hat er ohne Helfer aber kaum eine Chance. Auch Ballan ist sicher in einer guten Position. Er ist der einzige der Topfavoriten, der mit Lorenzetto noch einen Helfer an seiner Seite hat. Aber beide  sollten es nicht schaffen…. Keiner will jetzt das Tempo machen. 3 km vor dem ziel rollt die Gruppe in sehr gemütlichem Tempo durch die Sträßchen San Remos. Die Kräfte scheinen verbraucht. Die hintere Gruppe könnte womöglich noch einmal herankommen. Dann folgt der Antritt von Cancellara, wieder einmal scheint er der Nutznießer dieser konfusen Rennsituation zu sein. Hinter belauern sich weiter alle, keiner setzt nach. Will man nicht, oder kann man nicht? Cancellara erreicht den Teufelslappen. Hinten macht niemand etwas. Pozzato, Rebellin und Gilbert sind nun die direkten Verfolger.

 

Ich habe zu Beginn der Primavera meine Zweifel gehabt, ob es nicht ein Fehler war, auf Francesco Chicchi zu verzichten. Immerhin ist er augenscheinlich der beste Sprinter der Mannschaft Liquigas, und bei Mailand-San Remo kommt es normalerweise eben auch auf diese Fähigkeiten an. Heute hätte Chicchi wohl aber keine Chance gehabt. Dazu käme ihm der Rennverlauf nicht entsprechend entgegen. Auch von anderen ist in dieser Phase nichts zu sehen. Wo ist T-Mobile im Finale denn plötzlich? Man ist auch dort nur auf einen Massenspurt vorbereitet gewesen. Deshalb hat man auch die gesamte Mannschaft auf Ciolek und Reynes abgestimmt, aber die scheinen auch mit dem schweren und etwas undurchsichtigen Rennen nicht gut klargekommen zu sein.

 

Milram führt die Verfolgergruppe an. Alle rechneten dort fest mit einem Sprint, und haben auch den gesamten „Petacchi –Zug“ zur Classicima mitgenommen. Velo sollte rund 800 Meter vor dem Ziel in den Wind, danach Ongarato, Zabel und Petacchi sollte das Rennen „vollenden“. Das ist die Theorie, aber im Spitzensport muss man flexibel sein. Auch Milram hat sich verkalkuliert und wird zu den Verlierern des Rennens gehören. Die Mannschaft hat bereits zu Beginn zu viele Kräfte liegen lassen und büsst das jetzt im Finale. 1 km vor dem Ziel liegt man dort aber rund 20 Sekunden hinter Spitze und ist chancenlos.

 

Cancellara befindet sich bereits auf der „Lungomare Italo Calvino“, und streckt die Hände in die Höhe. Das ist der Sieg! Das Rennen war ihm auf den Leib geschneidert. Er gewinnt also 2 Jahre nach seinem Triumph in der „Hölle des Nordens“ auch das längste Etappenrennen der Welt. Sein Team hat sich dezent zurückgehalten und  trotzdem gewinnt Cancellara ein Rennen, das ihm vom Profil her überhaupt nicht liegt. Im Massensprint wäre er wahrscheinlich gar nicht unter die besten 20 gekommen, aber nun, dank der harten Tempoarbeit von Lampre und Liquigas am Ende, reicht es zum Sieg.

Pozzato führt die Verfolger ins Ziel und wird Zweiter vor Gilbert, der den Dritten Platz belegt. Für den jungen Wallonen scheint das heuer der endgültige Durchbruch zu sein. Viele hätten das schon früher erwartet, aber nun scheint er dank seiner Siege bei „Memorial Samyn“ und „Het Volk“ tatsächlich zum Siegertypen gereift zu sein. Die Ronde in 2 Wochen wird er wohl auch als einer der Favoriten in Angriff nehmen. Vor allem seine gute Rennübersicht zeichnet den jungen Belgier momentan aus.

 

Vierter wurde ein enorm starker Rebellin, der heute, bei einem schwereren Rennen wohl gewonnen hatte. Bereits an der Cipressa war er sehr aktiv und auch am Ende hat er wohl sein persönliches Maximum herausgeholt. Nicht zu Unrecht, meinte Holczer nach dem Rennen, er sei heute der stärkste Fahrer gewesen.

 

Freire und Hushovd zählen wohl auch noch zu den Gewinnern dieses Rennens. Das ist bei den Plätzen 8 und 9 eine etwas ungewöhnliche Interpretation. Aber beide haben aus dieser Rennsituation wohl das Maximum herausgeholt. Vor allem die Entwicklung von Hushovd ist sehr positiv anzumerken. Schon bei Paris-Nizza war er im Gebirge gut unterwegs, und zeigte sich deutlich verbessert. Mit einem stärkeren Team hätte er das Rennen heute sogar gewinnen können.

 

Die Enttäuschungen der 99.Auflage von Mailand-San Remo sind wohl Quick Step und Lampre. Von beiden Teams hätte man einen Podestplatz erwartet. Die Ehre der italienischen Mannschaft rettete Lorenzetto als Fünfter. Aber von Ballan hätte man wohl schon mehr erwartet als den letzten Platz der Spitzengruppe. Er wirkte am Ende etwas unkonzentriert, was ihm vielleicht einen Platz ganz vorne gekostet hat. Das taktische Genie, als das er sich ja letztes Jahr bei den Cyclassics gezeigt hat, war er heute nicht.

Quick Step hätte mit Bettini eine Trumpfkarte gehabt, er legte aber zu früh seine Karten auf den Tisch, und hatte dann im Finale wohl nicht mehr die nötige Energie um sich in der Spitzengruppe am Poggio zu platzieren. Boonen war völlig außer Form, wird diese aber wohl bis zur Flandernrundfahrt wieder finden. Wobei man nach seinen guten Leistungen der letzten Jahre mehr erwartet hätte.

 

Alles in allem kann man wohl sagen, dass diese Abwechslung, die man als Zuschauer bei der heurigen Ausgabe der Primavera zu sehen bekam, gut tat. Auch für ambitionierte Klassikerspezialisten wird es vielleicht ein Anstoß gewesen sein, sich in Zukunft auch bei der Classicima blicken zu lassen, und das, in guter Form. Denn einmal mehr bewahrheitet sich die alte Radsportweisheit: “Es ist nicht die Strecke, die ein Rennen schwer macht, es sind die Fahrer!“

 

Am Ende, möchte ich noch ein paar Worte zur Übertragung auf Eurosport schreiben.
Erstens, finde ich es etwas schade, dass Eurosport die Eiskunstlauf-WM, Mailand – San Remo vorzieht. Und dann war auch die noch Übertragung deutlich gekürzt. Die Anfahrt zur Cipressa hat man sogar völlig ausgelassen. Weiters hat man nach der Zieldurchfahrt die Übertragung gleich beendet. Nicht einmal mehr das Tagesklassement wurde eingeblendet. Auch Karsten und Ulli hatten nicht ihren besten Tag. Beide wirkten etwas unvorbereitet, wobei es Migels noch besser kaschierte. Jansch verwechselte Fahrer, Jahreszahlen und hatte falsche Statistiken parat. Beide wirkten auch gelangweilt, was bei diesem spannenden Rennen nicht passieren hätte sollen. Ich habe nichts gegen die beiden, aber alles in allem, kann man vom selbsternannten Radsportsender Nummer eins im deutschsprachigen Raum wohl schon etwas mehr erwarten.

 

 

geschrieben von Jakob Fischer

Veröffentlicht von Florian

Medien-Blogger, Community-Manager, Sportfan.

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